Monday, June 23, 2014





Igor Ganikowskij, Music, paper/ original note, 32x27, 2002

Gespräch Sofia Gubaidulinas mit Igor Ganikowskij. 24.06.2007
„Musik ist das gehörte und realisierte Klingen der Welt“ 


I.G.: Wenn ich mir Ihre Partituren anschaue, sind dort oft graphische Elemente zu sehen. Das ist natürlich charakteristisch für die zeitgenössische Musik, aber nichtsdestotrotz möchte ich fragen, welche Bedeutung Dreiecke, Quadrate, Spiralen und Kreuze für Sie haben.

S.G.: Generell spielt die Handbewegung für mich eine wichtige Rolle. Vor allem am Anfang, wenn ich noch an der Grundidee arbeite, ist es hilfreich, eine Zeichnung zu machen. Von besonderer Bedeutung ist für mich aber die Darstellung des Kreuzes.

I.G.: Ich hatte einfach den Eindruck, dass sich dahinter gar nicht so sehr das Streben nach Visualisierung der Musik verbirgt, sondern vielmehr der Wunsch, einer grundlegenden Konstruktionen auf die Spur zu kommen, auf die man sich stützen kann, einer Mathematik beispielsweise...

S.G.: Mathematik ist da natürlich, wenn auch eher Arithmetik. Mir scheint, dass ich dabei bin, eine Technik zu entwickeln, die sich der Intuition entgegensetzen lässt. Die Sache ist die, dass die Musik gegenwärtig in einer Situation ist, in der in der Arbeit der Komponisten zu viel Freiheit zu spüren ist, während ich im Gegensatz dazu nach Gesetzmäßigkeiten suche, die mich einschränken können. Zugleich versuche ich allerdings, gerade solche Einschränkungen zu finden, die meine Intuition nicht stören. Das ist die Aufgabe, die sich mir immer wieder stellt. Manchmal lässt sie sich lösen, manchmal nicht – darin liegt das Drama meiner Arbeit.

I.G.: Das kann ich gut nachvollziehen. Solange wir jung sind, versuchen wir, uns selbst auszudrücken, aber je größer unsere Erfahrung ist, desto mehr kommen wir zu der Überzeugung, dass sich hinter dem Persönlichen etwas Allgemeines verbirgt, etwas, das von einer höheren Welt diktiert wird. Und wir verstehen, dass gerade das wichtig ist... Indem wir uns Beschränkungen auferlegen, schneiden wir das Zufällige ab.

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Gespräch, das wir in Moskau geführt haben, als ich vor etwa 25 Jahren Ihr Porträt gemalt habe.

Sie sagten damals, dass es oft vorkomme, dass Sie bei einer unbekannten Musik, die Sie zum ersten Mal hören, oft schon wüssten, wie es weitergeht.

S.G.: Ja, das kommt oft vor, und nicht nur bei mir. Ich habe das auch von anderen Komponisten gehört. Du hörst eine fremde Musik und machst unwillkürlich in der gleichen Art weiter.

I.G.: Könnte man daraus schließen, dass alles irgendwie bereits aufgeschrieben ist? Verschiedene Leute haben verschiedene Intuitionen: der eine sieht in die Zukunft, der andere in die Vergangenheit, Sie hören Musik... Einige Leute verfügen einfach über die Fähigkeit, in den Raum vorzudringen, in dem alles bereits existiert.

S.G.: Ich weiß nicht. Ich persönlich habe nicht das Gefühl, dass alles bereits aufgeschrieben ist. Mir scheint, dass wir auf dem Weg sind, das Universum zu hören, die Welt zu hören, denn deren Klang ist unendlich und ewig. Aber dieser Klang ist seiner Form nach ein musikalisches Werk, zu dem es einen Weg gibt. Und wir sind ewige Wanderer auf diesem Weg... Aber so, wie Sie es gerade formuliert haben, dass alles bereits irgendwo aufgeschrieben ist und man nur hinhören muss, kann ich es für mich nicht sagen.

Ich erinnere mich, dass Alfred (der Komponist Alfred Schnittke – I.G.) auch dieser Meinung war. Er hat mir erzählt, dass er den Eindruck habe, dass alles schon geschrieben sei und man nur sehr aufmerksam hinhören und es dann aufschreiben müsse. Jeder hat seine eigene Wahrnehmung.

I.G.: In diesem Punkt stehe ich Alfred wohl näher. Für mich wäre es seltsam zu denken, dass Er, der diese Welt und uns in ihr geschaffen hat, etwas nicht wissen kann. Ich stelle mir vor, dass alle unsere „Phantasien“ nicht das Produkt des menschlichen Hirns oder Herzens sind, sondern alles zu seiner Zeit von oben kommt, und es Menschen gibt, die diese Information schneller, reiner und tiefgehender auffangen als andere. Vergessen Sie nicht, dass die meisten Phantasien, die zu ihrer Zeit völlig wahnsinnig schienen, mittlerweile realisiert wurden oder realisiert werden. Wahrscheinlich hätte sich nicht einmal Jules Verne die heutigen lautlosen Atom-U-Boote vorstellen können.

Können Sie sich übrigens an meine Serie graphischer Arbeiten mit dem Titel „Die Geburt der Musik“ erinnern, die ich Ihnen gewidmet habe? Ein Blatt, das eine gewisse Information – Noten – enthält und von halbtransparentem Pauspapier bedeckt ist. Was unter diesem Papier ist, sieht trübe und rätselhaft aus. Aber in dem Pauspapier sind Fensterchen, und wenn wir diese verschieben, erscheint alles zuvor Verborgene und wird verständlich und klar. Ich denke, dass unsere Aufgabe darin besteht, diese Fenster zu öffnen. Und je mehr Fenster wir öffnen, desto besser verstehen wir den Grundtext. Diese ganze Menschheit ist an diesem Prozess beteiligt. Wie bei einem Puzzle.

S.G.: Nun, so mag es sein.

I.G.: Sonja, ich würde gerne etwas über ihre Beziehung zur Farbe bzw. zur Farbmusik erfahren. Sie haben doch selbst in dieser Richtung gearbeitet?

S.G.: Das schien mir attraktiv und ich habe versucht, etwas in dieser Richtung zu machen. Aber seitdem Farbe und Licht eine immer größere Rolle in der populären Musik, in Diskotheken, spielen, habe ich meine Haltung dazu geändert. Farb- und Lichtgefühle drängen das audiale Gefühl immer mehr in den Hintergrund. Ich habe keine Scheu davor, in meine Werke zuweilen theatralische Momente einzuschieben, aber mit der Zeit bin ich zu der Ansicht gelangt, dass sich damit nicht ernsthaft arbeiten lässt. Ich arbeite schließlich mit Zahlen. Ich habe diese Erfahrung mit „Aliluje“ gemacht. Aber später war ich doch ernüchtert, vor allem, nachdem ich Skrjabins „Prometheus“ mit einem sehr guten Farbapparat gesehen habe. Können Sie sich vorstellen, wie sehr das die Musik verdunkelt hat? Die Musik war nicht mehr das wesentliche, sondern nur noch Begleitung. Skrjabins klare Musik war plötzlich recht matt. Da habe ich verstanden, dass die Musik nicht mit einer visuellen Reihe konkurrieren kann und geschützt werden muss.

I.G. Schließlich macht das Visuelle fast 70 Prozent aller menschlichen Empfindungen aus.

S.G.: Völlig richtig. Und schauen Sie sich an, wie die Kultur heute versucht, das auszunutzen. Das Gleichgewicht wird gestört. Generell ist heute eine Bedeutungsverschiebung zwischen ernsthafter und populärer Musik zu verzeichnen – was in gleicher Weise sicherlich auch für ernsthafte Malerei oder ernsthafte Dichtung gilt. Sie stehen am Rand des Verschwindens. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass populäre und ernsthafte Kunst völlig unterschiedliche Aufgaben erfüllen.

Die eine hat die Aufgabe zu unterhalten, die andere versucht, die Konzentration zu entwickeln – das sind zwei diametral entgegengesetzte Aufgaben. Können Sie sich eine Menschheit vorstellen, die die Tendenz hat, die Praxis der Konzentration zu vernichten, die den Mensch erst zum Menschen gemacht hat? Ich habe nichts gegen populäre Kunst, aber es muss doch auch eine ernsthafte Haltung geben. Es ist einfach schrecklich, wenn der Mensch das Moment der Konzentriertheit verliert. Und eine solche Entwicklung ist heute kaum noch zu übersehen. Nehmen Sie z.B. Deutschland. Vor 20 Jahren waren die Deutschen noch ernsthaft und aufmerksam, heute sehen wir immer mehr Deutsche, die sich nicht konzentrieren können.

I.G.: Ja, ich bin einverstanden. Konzentration ist etwas, was den Geistesgewohnheiten des heutigen Westens vollkommen fremd ist und diesen sogar zuwiderläuft. Alle lassen sich treiben und streben bloß nach Zerstreuung und ständiger Veränderung. Aber nur eine starke Wahrnehmung kann richtig sein.

S.G.: Generell ist die Einstellung, Kultur als etwas Sekundäres zu betrachten, heute für alle zivilisierten Länder charakteristisch. Man trifft immer öfter auf Leute, die zwar sehr zivilisiert sind, aber keine Kultur mehr haben. Die entwickelten Staaten bezahlen ihren technischen und technologischen Fortschritt mit einem Verlust an ernster Kultur. Alles hat seinen Preis.

I.G.: Aber man kann doch nicht leugnen, dass es sich dabei nur um einen allmählichen Prozess handelt...

S.G. Aber es kann auch zu einem qualitativen Sprung kommen.

I.G.: Ich habe allerdings noch eine andere Theorie hinsichtlich der Beziehung zwischen ernsthafter und populärer Kultur. Was die ernste Kultur betrifft, denke ich, dass ihr immer ein und die gleiche unabänderliche Rolle zukommt: Sie hat die Menschheit daran zu erinnern, dass Gott existiert, und muss nach und nach dessen Eigenschaften aufdecken, indem sie erklärt, dass die Welt, in der wir leben, nur den ersten Schirm darstellt. Die populäre Kultur wiederum hat meines Erachtens nicht nur die Aufgabe zu unterhalten, sondern soll auch die reale Welt verdecken und unsere Welt noch mehr mit Illusionen sättigen, als dies ohnehin schon der Fall ist. Gerade dadurch, dass sie mit der Welt des Konsums und der Kopien verbunden ist, spiegelt die populäre Kultur den realen Zustand der Menschheit. Warum soll man den Spiegel schelten, wenn das Maul schief ist? Eine andere wichtige Aufgabe der Popkultur sehe ich darin, dass sie die Menschheit auf Veränderungen vorbereitet. Wenn die Welt morgen voller Klone und Roboter ist, sind die Menschen darauf im Prinzip schon vorbereitet. Die Welt hat heute eine Tendenz zur Vermischung. Der Mensch hat schon x-mal einen babylonischen Turm gebaut – das Resultat ist bekannt.

Und natürlich erfasst diese Tendenz auch die Kunst, was sich vor allem am Beispiel der visuellen Künste erkennen lässt, die den anderen Künsten immer ein bisschen voraus sind. Die populäre Kultur versucht nicht, die ernsthafte Kultur zu verdrängen, sondern zu schlucken. Wir steuern auf einen neuen Synkretismus zu, wenn auch auf-kümmerlichem Niveau. In den visuellen Künsten ist es heute schon schwierig zu sagen, was wohin gehört.

Ich habe noch eine Frage: Ich erinnere mich, dass die beiden wichtigsten Komponisten für Sie Bach und Webern sind. Ist Ihre Wertschätzung für Webern gerade durch seine Konzentriertheit, seinen Minimalismus zu erklären?

S.G.: Webern mag ich für die Reinheit des konstruktiven Denkens. Bach ist für mich schlicht die herausragende Figur der Musikgeschichte. Bei ihm verbinden sich ein starkes konstruktives und strukturelles Denken einerseits mit Spontaneität und intuitiver Arbeit andererseits. Alles in allem ist Bach für mich der wichtigste Komponist, wobei Messiaen, Schönberg, Wagner, Monteverdi und Gesualdo ebenfalls für mich wichtig sind.

I.G.: Und was können Sie über die zeitgenössischen deutschen und russischen Komponisten sagen?

S.G.: Hier gibt es auch interessante Namen, Henze, Helmut Lachenmann oder Karlheinz Stockhausen etwa. Seine frühen Werke waren sehr wichtig für mich, sie sind sehr ernst und gut...

I.G.: Und das letzte, was ich noch fragen möchte: Konnte Petja (Pjotr Meschanikow, Dirigent, Musiker, Musiktheoretiker und Ehemann Sofia Gubaidulinas – I.G.) sein Buch zu Ende bringen, an dem er sein ganzes Leben gearbeitet hat?

S.G. Bedauerlicherweise nicht. Das ist eine fundamentale, sehr tiefgehende Forschungsarbeit. Er hat versucht, die höchsten Höhen zu erreichen und sehr gut gearbeitet... Noch kurz vor seinem Tod hat er mir gesagt, dass es nur noch niedergeschrieben werden müsse... Aber er hat es nicht mehr geschrieben. Es ist natürlich viel Material im Computer geblieben, Ziffern, Matrizen...

I.G.: Ist es möglich, jemanden zu finden, der all dies überarbeiten könnte?

S.G.: Leider gibt es auf dieser Welt keinen zweiten solchen Forscher. Sie können sich nicht vorstellen, wie tief die Kluft ist, die Petja von jedem beliebigen noch so fortgeschrittenen heutigen Theoretiker trennt. Deshalb halte ich es für richtiger, alles Material zu sammeln und bis zur weiteren Verwendung in die Paul-Sacher-Stiftung zu geben. Ich habe schlicht Sorge, dass sich selbst sehr ernsthafte Forscher nicht zurechtfinden. Er hat ganze Ordner mit Titeln wie „Operatoren“ oder „Matrizen“ angelegt. Davon hat nie jemand gehört, dabei steht etwas für die Musik sehr wichtiges dahinter.

I.G.: Ich bin überzeugt, nicht nur für die Musik. Es gibt allgemeine Gesetze: Musik und Wissenschaft – alles ist miteinander verbunden.

S.G.: Generell ist das wieder einmal eine dieser Tragödien der russischen Kultur. Den Russen gelingt es nicht, bis zum Ende zu gehen...

I.G.: Ich habe zuweilen das Gefühl, dass einen jemand nicht durchlässt. Dich überkommt Angst, wenn du vor einer neuen Tür stehst und nicht weißt, was sich hinter dieser verbirgt – Licht oder tiefste Finsternis. Vielleicht ist Petja auch an eine solche zu wichtige Tür getreten. Leute werden zuweilen bestraft, wenn sie etwas erfahren wollen, wofür die Zeit noch nicht reif ist.


Übersetzung Lars Nehrhoff  

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